In der Schweiz leben schätzungsweise 100’000 Kinder mit einem Vater oder einer Mutter, welche einen riskanten Konsum von Alkohol oder anderen Substanzen hat. Die Sucht eines Elternteils kann den Familienalltag destabilisieren und ein Risiko für die Entwicklung des Kindes darstellen.

Das nationale Programm PAPA TRINKT. MAMA TRINKT. für Kinder suchtkranker Eltern wird von Sucht Schweiz geleitet. Es zielt darauf ab, diese Kinder sichtbar zu machen, damit sie die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um in einer für ihre Entwicklung günstigen Umgebung aufzuwachsen.

Die Problematik dieser Kinder ist komplex. Um sie zu verstehen, müssen zahlreiche Elemente berücksichtigt werden.

Das Ausmass der Problematik

Die in der Schweiz am häufigsten konsumierte psychoaktive Substanz ist Alkohol. Alkohol ist zudem die psychoaktive Substanz, die am häufigsten der Grund für eine Behandlung von Konsumierenden führt. Daher lebt der Grossteil der Kinder suchtkranker Eltern mit einem Elternteil zusammen, das von einer Alkoholproblematik betroffen ist.

Konsum von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen in der Bevölkerung

In der Schweiz trinken etwas mehr als acht von zehn (83%) Personen im Alter von 15 Jahren und älter zumindest gelegentlich Alkohol (SGB 2022). Während die Mehrheit der Bevölkerung keinen problematischen Alkoholkonsum aufweist, trinken einige Menschen zu viel, zu häufig oder in unangemessenen Situationen. In der Schweiz ist es eine Herausforderung, die Prävalenz von Personen mit problematischem Alkoholkonsum zu ermitteln, da die Daten fehlen oder unvollständig sind. Eine Studie aus dem Jahr 2010 schätzt die Zahl der alkoholabhängigen Personen in der Schweiz auf 250’000 (Kuendig, 2010). Darüber hinaus gibt jede dritte Person an, mindestens eine Person mit Alkoholproblemen in ihrem Umfeld zu haben (Marmet & Gmel, 2015).

Die problematischen Folgen des Alkoholkonsums sind beträchtlich. Etwas weniger als die Hälfte der Einweisungen in eine ambulante oder stationäre Behandlung erfolgt aufgrund eines alkoholbedingten Hauptproblems (über 20’000). Die andere Hälfte betrifft hauptsächlich den Gebrauch von Kokain (11%), Opioiden (10%) und Cannabis (10%) (MonAM, act-info, 2023). Das Durchschnittsalter der zur Behandlung eingewiesenen Personen liegt bei 46 Jahren. Unter diesen Personen befindet sich zwangsläufig ein beträchtlicher Anteil von Eltern minderjähriger Kinder.

Wie viele Kinder leben in einer Familie mit problematischem Konsum?

In einer Studie (Hümbelin et al., 2020), die auf den Daten der schweizerischen Gesundheitsbefragung 2017 basiert, wurde die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die in der Schweiz bei einem Vater oder einer Mutter mit riskantem Konsum von Alkohol oder anderen Substanzen leben, auf 100’000 geschätzt. 5,8 % der Kinder (73’136) leben in einer Familie mit riskantem Alkoholkonsum. 23’381 Kinder (1,8 %) leben in einer Familie, in der die Eltern mindestens eine der folgenden Substanzen konsumieren: Cannabis, Kokain, Ecstasy, Heroin und andere Drogen (Speed, Amphetamine, LSD, halluzinogene Pilze usw.). Es leben 12‘550 Kindern mit Eltern zusammen, welche mehrmals pro Woche oder täglich Cannabis konsumieren und 6‘053 Kinder mit einem Elternteil, welches in letzter Zeit harte Drogen (aber kein Cannabis) konsumiert hat. In 4’778 Fällen konsumieren die Eltern des Kindes sowohl Cannabis als auch harte Drogen.

Sucht, eine Krankheit

Sucht kann definiert werden als der Verlust der Kontrolle und damit der Autonomie einer Person in Bezug auf den Konsum einer psychoaktiven Substanz oder eines Verhaltens (z. B. Glücksspiel). Dies führt zu Leid bei der betroffenen Person. Aufgrund der direkten Auswirkungen oder der indirekten Folgen der konsumierten Substanz, verändert sich die Beziehung der Betroffenen zu ihrer Umwelt. Zu diesen Folgen gehören der unbändige Wunsch zu konsumieren, das Aufgeben von Interesse und anderen Quellen der Freude, finanzielle Probleme und die Verschlechterung der Gesundheit. Sucht ist das Ergebnis des Zusammentreffens einer Person, eines Produkts und ihrer Umgebung. Mit anderen Worten: Sie ist das Zusammentreffen von Faktoren, die über das eigentliche Individuum hinausgehen. Die soziale Situation (Unsicherheit) der Person, ihre Erlebnisse (Trauma), die Eigenschaften der konsumierten Substanz, ihre Verfügbarkeit, ihre Bewertung in der Gesellschaft oder einer Gruppe von Menschen sind allesamt Elemente, welche sich summieren und die Entwicklung einer Sucht beeinflussen.

Sucht betrifft die ganze Familie

Sucht ist eine Krankheit, welche sich auf die ganze Familie auswirkt: den Ehepartner/die Ehepartnerin, die Kinder sowie andere nahestehende Personen. Zu den negativen Auswirkungen eines problematischen Konsums auf die Angehörigen gehören die Verschlechterung der Beziehungen und des Familienzusammenhalts, die Sorge um die suchtkranke Person und Probleme beim Zusammenleben. Diese Schwierigkeiten führen zu Ängsten, Schlafstörungen oder depressiven Verstimmungen, welche durch die Isolation, in welche sich die Person zurückzieht, noch verstärkt werden.

Die Situation des Kindes verstehen

In den Erfahrungen von Kindern, welche mit einem suchtkranken Elternteil aufwachsen, lassen sich wiederkehrende Elemente erkennen.

Eine Kindheit in der Stille

Einen suchtkranken Elternteil zu haben, bedeutet für Kinder oft, innerhalb der Familie zum Schweigen und ausserhalb der Familie zur Geheimhaltung verpflichtet zu sein. Das Schweigen erzeugt bei Kindern eine Dissonanz zwischen dem, was sie sehen und fühlen, und dem, was darüber gesagt oder spezifischer, verschwiegen wird. Um den Ruf der Familie zu wahren, verheimlichen die Kinder ihre Situation und sprechen nicht darüber. Aus Angst vor Entdeckung und Scham laden sie keine Freunde zu sich nach Hause ein, was zu ihrer Isolation beiträgt.

Die immer wiederkehrenden Gefühle

Kinder von suchtkranken Eltern glauben oft, dass sie für das Problem verantwortlich sind oder es sogar verursacht haben. Schuldgefühle sind die Folge. Oftmals versuchen sie die Situation zu ändern, schaffen es aber nicht und fühlen sich hilflos. Zwischen Loyalität und Verwirrung hin- und hergerissen, erleben sie widersprüchliche Gefühle gegenüber dem betroffenen Elternteil: Liebe und Hass, Zuneigung und Wut.

Ein unberechenbares Familienklima

Kinder von suchtkranken Eltern wachsen oft in einem unstrukturierten und unvorhersehbaren Umfeld auf, das durch die Stimmungsschwankungen, Vergesslichkeit und Sorgen des suchtkranken Elternteils geprägt ist. Dieses Umfeld erzeugt Unsicherheit und Unruhe. Die Kinder haben nicht nur Angst vor Konflikten und verbaler und/oder körperlicher Gewalt, sondern auch davor, nicht mehr geliebt oder verlassen zu werden.

Auswirkungen auf das Kind

In einem unsicheren Umfeld gleicht das Kind die Versäumnisse des suchterkrankten Elternteils aus und übernimmt Verantwortung, welche eigentlich nicht ihm zukommen sollte. Dies wird als Parentifizierung bezeichnet. Das Abhängigkeitsverhältnis wird umgekehrt: Das Kind übernimmt die Rolle des Elternteils und stellt seine Bedürfnisse in den Hintergrund. Das Kind gibt seine Unbeschwertheit auf. Die Aufgaben, die es übernimmt, behindern u. a. die Zeit und Energie, die es für das Lernen aufwenden könnte. Diese Umstände können dazu führen, dass das Kind sich überfordert.

Folgen bis ins Erwachsenenalter

Bei Kindern, die mit einem suchtkranken Elternteil aufwachsen, wurden potenzielle Anfälligkeiten festgestellt. Diese Kinder haben unter anderem ein erhöhtes Risiko (Solis et al., 2012) :

  • den schulischen Anforderungen nicht gewachsen zu sein und dadurch schlechtere Leistungen erbringen.
  • schlechtere kognitive Leistungen (Rechnen, Lesen usw.) aufzuweisen.
  • eine psychische Störung (Angst, Depression, geringes Selbstwertgefühl) zu zeigen.
  • Verhaltensauffälligkeiten, aggressives Verhalten, geringe soziale Kompetenz zu zeigen.
  • eine Sucht in der Jugend (Biederman et al. 2000) oder im Erwachsenenalter zu entwickeln (Chassin et al. 1999).
  • im Erwachsenenalter an vermeidbaren Ursachen wie Substanzkonsum, Selbstmord, Unfällen und Aggressionen zu sterben.

Faktoren im Zusammenhang mit der Verletzlichkeit der Kinder

Es muss betont werden, dass Kinder von suchtkranken Eltern nicht zwangsläufig eine Vulnerabilität entwickeln. Der Grad der Anfälligkeit dieser Kinder für die erwähnten Risiken wird durch das Vorhandensein und die Kumulierung bestimmter Faktoren beeinflusst:

  • die Anzahl der Eltern mit einer Suchterkrankung
  • die Dauer der Sucht des Elternteils und/oder sein Genesungszustand.
  • gleichzeitigen psychologischen Erkrankungen des Elternteils
  • die Anwesenheit anderer Personen bei den Kindern
  • die Art der konsumierten Substanz
  • das Alter des Kindes zum Zeitpunkt des Substanzmissbrauchs des Elternteils
  • die gleichzeitig bestehenden familiären Schwierigkeiten (Konflikt, Finanzen…).

Das Kind vor der Entwicklung von Anfälligkeiten schützen

Unabhängig von ihrem Alter benötigen Kinder von suchtkranken Eltern Unterstützung. Diese Unterstützung kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen – sowohl von aussen als auch von innen. Bestimmte Faktoren tragen dazu bei, dass das Kind sich stabilisiert und die Herausforderungen, denen es begegnet, besser bewältigt. Diese Faktoren wirken schützend. Zu ihnen zählen beispielsweise:

  • mit einer Vertrauensperson sprechen zu können und ein Verständnis für die schwierigen Erfahrungen zu erhalten
  • eine stabile Beziehung zu dem Elternteil, welches nicht suchtkrank ist, oder zu einem anderen vertrauenswürdigen Erwachsenen zu haben
  • einer täglichen Routine zu folgen (regelmässige Essens- und Schlafenszeiten) und an Familienritualen teilzunehmen (Feste, Aktivitäten)
  • ein gutes Selbstwertgefühl zu haben
  • persönliche Interessen und Projekte zu entwickeln
  • die Fähigkeit zu stärken, Schwierigkeiten zu lösen und um Hilfe zu bitten.

Konkrete Handlungsmöglichkeiten werden in « Wie kann ich helfen? » vorgeschlagen.

Referenzen

Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB), 2022.

Kuendig H. (2010). Estimation du nombre de personnes alcoolo-dépendantes dans la population helvétique. Rapport de recherche N° 56. Lausanne: Addiction Info Suisse.

Marmet S., Gmel G. (2015). Suchtmonitoring Schweiz – Alkohol- und Drogenprobleme im Umfeld im Jahr 2013. Lausanne: Sucht Schweiz.

Hümbelin O., Läser J., Kessler D. (2020). Kinder aus Familien mit risikoreichem Substanzkonsum. Berner Fachhochschule.

Krizic I., Balsiger N., Gmel G., Labhart F., Vorlet J. & Amos J. (2024). act-info Jahresbericht 2023: Suchtberatung und Suchtbehandlung in der Schweiz. Ergebnisse des Monitoringsystems. . Bern: Bundesamt für Gesundheit.

Solis J M, Shadur J M, Burns A R, Hussong A M (2012). Understanding the diverse needs of children whose parents abuse substances. Curr Drug Abuse Rev.

Biederman et al. (2000). Patterns of alcohol and drug use in adolescents can be predicted by parental substance use disorders.

Chassin et al. (1999). A longitudinal study of children of alcoholics: predicting young adult substance use disorders, anxiety, and depression.

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